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Biographisches

Biographisches

Vielleicht ist eine trotz der damaligen beklemmenden Begleitumstände – heute sind sie nur noch düster – aufschlußreiche und auch witzige Anekdote der geeignete Einstieg in die Thematik. Das von Beate Mittmann und mir verfaßte Buch über die Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte im Irak war unlängst erschienen, und gemeinsam mit Fritz Erik Hoevels wollten wir ein Exemplar desselben an Vertreter der Baath-Regierung in Bagdad überreichen. Auch konnten wir Vorträge an der dortigen Universität halten; man schrieb das Jahr 1993, und das Zweistromland war zwar aufs schwerste kriegszerstört, aber es herrschte dort ein größeres Maß an Meinungsfreiheit als in unserem Herkunftsland der universitären Raumverbote. (Wieviel "Undenkvolles" enthalten bereits diese wenigen Sätze: "Was – im Irak?" – "Wie – amerikanische Kriegsverbrechen?!" – "Als wessen Gast – von Saddam Hussein, dem blutrünstigen Diktator?!?".)
Eines Abends kamen wir u. a. darauf zu sprechen, welche
Titel wir für unsere Autobiographie wählen würden, so sie je zustandekämen. Erik meinte zunächst: "Adenauers Kind", besann sich dann aber und sagte: "Nein, besser ist: 'Ihr könnt mich mal alle'." Allgemeine Heiterkeit – großartig. –

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Es mutet skurril an, einem muffigen Dunkelmann wie dem Ami- und Kirchenknecht Adenauer wenigstens indirekt sein Dasein zu verdanken, aber mir wie vielen anderen in den fünfziger Jahren Geborener stand die direkt auf Hitler zurückführende Trias aus fehlenden zuverlässigen Antikonzeptiva (die im Existenzfalle so schnell verboten worden wären wie heute die RU-Pille), Abtreibungsverbot und dem Pfuschwerk der Engelmacherinnen Pate. So erblickte ich nach drei erfolgreich verlaufenen, nun, beim vierten Mal, jedoch das Leben der Schwangeren gefährdenden illegalen Eingriffen (wer, weil er diese Zeit nicht erlebt hat, sich diese stinkend menschenunwürdigen Zustände nicht vorstellen kann, sei auf die autobiographische Erzählung 'Das Ereignis' der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux verwiesen) das sogenannte Licht der Welt, in Wirklichkeit ein trostloses Grau in Grau unter einem alles erstickenden klerikalen Leichentuch. Ich wähle diese Art der biographischen Eröffnung, weil sie erstens stimmt und zweitens jene gegen mich gerichtete Kriegserklärung darstellte, über deren Charakter und, wenn man so will, Gesetzmäßigkeit ich mir erst nach über zwei Jahrzehnten meiner Existenz allmählich klar wurde. Daß die KPD verboten wurde, als ich ein Jahr alt war, erfuhr ich erst wesentlich später; nur hinter vorgehaltener Hand hörte ich raunen, daß beide Großväter jener ominösen Organisation angehört hatten, die unter Hitler – wie heute in analogen Fällen – als "terroristisch" oder mit ähnlichen Etiketten von adäquatem Hetzwert verbellt und verfolgt wurde. In den USA schmiedete man seinerzeit eifrig Pläne zur atomaren Vernichtung der Sowjetunion, die dreieinhalb Dekaden später mit deren würdeloser Kapitulation ohne ein europaweites nukleares Armageddon Realität wurde; der Wiesenklee, an dem wir Kinder saugten, war aufgrund der atmosphärischen Atomtests verstrahlter als nach der Tschernobyl-Katastrophe. Ansonsten war die Welt in Ordnung: Wir Kinder bezogen in der Schule Tatzen und Kopfnüsse, wurden mit Schlüsselbunden beworfen und an den Haaren gezogen, unter dem Konterfei eines gütig bis dümmlich dreinblickenden Landesvaters, des KZ-Baumeisters Lübke. Aber damit genug; was ich mit "Kriegserklärung" meinte, dürfte mit diesen wenigen Worten nachvollziehbarer geworden sein.

Es traten, zunächst unmerklich, Veränderungen ein. Die griesgrämigen Visagen der Kriegsverlierer und Wehrmachtspfarrer verschwanden nach und nach aus der Schule und machten jüngeren, freundlicheren Gesichtern Platz. Es wurde nicht mehr geschlagen. In den großen Städten demonstrierten die Studenten, an den Universitäten gab es "Sit-Ins" und "Teach-Ins". Die Amis holten sich in Vietnam eine blutige Nase – David stand gegen Goliath auf. Die jungen Männer ließen sich Haare und Bart wachsen, bei den Frauen wurden die Röcke kürzer und die Blusen durchsichtiger. Dies war meine erste Vorstellung von Freiheit, die ich, so klug war ich dann doch, nach ein paar jämmerlich gescheiterten Versuchen nie wieder artikulierte, aber herbeisehnte: studieren! volljährig werden! Derweil ertönte im Familienknast die immer gleiche Leier: "Werd' mir bloß nicht so ein Gammler wie die!" - "Bring mir ja nicht so ein Flittchen" - wahlweise "Hure" oder "verhurtes Mensch" - "nach Hause!" So mußte ich warten, sieben, acht lange Jahre lang.

Als die so heiß herbeigewünschte Freiheit endlich eintrat, war ihr Geschmack fade geworden. Seit drei Jahren erhielten organisierte Linke "Berufsverbote", der SPD-Kanzler und Erzheuchler Willy Brandt hatte die Ära der Verfassungsbrüche eröffnet, die mit Art. 3,3 GG begann und seit ein paar Jahrzehnten bei Art. 26 angelangt ist. An den Wänden der Universitäten zeigten Plakate Gesichter, deren Münder mit Pflaster verklebt waren: "Schon bist Du ein Verfassungsfeind!" (Allerdings hätte ich, zu meiner Schande sei es gesagt, wie das Gros meiner Zeitgenossen nicht definieren können, was eine Verfassung ist; so wirkte das in kritischer Absicht erstellte Plakat wie eine diffuse Drohung.) Angehörige des militanten Anarchismus kamen in deutschen Gefängnissen auf mysteriöse Weise ums Leben, und das Aussprechen des Wortes "Mord" war gefährlich. Die Atmosphäre wurde berufsverbotlich-stammheimlich, Sprachregelungen und Denkverbote setzten immer neue Metastasen, das Duckmäusertum grassierte. In dieser wieder trüber werdenden Zeit, die mit dem militärischen Endsieg der USA in den monoimperialistischen Totalitarismus der Gegenwart mündete, fiel, sit venia verbo, mein politisches "Erweckungserlebnis".

Im Sommer 1976 besuchte ich eine Veranstaltung der "Marxistisch-Reichistischen Initiative" (MRI) zum Thema "Männerrolle – Frauenrolle". Schon zuvor war mir diese Organisation durch ihre in Inhalt und vor allem Stil unkonventionellen Flugblätter und anspruchsvollen Vortragsveranstaltungen (v. a. von Fritz Erik Hoevels) aufgefallen; es war zudem der einzige kommunistische Zusammenschluß, der mit dem Anspruch auftrat, die Erkenntnisse von Marx und Engels mit jenen Sigmund Freuds zusammenzuführen – hierfür stand der Name Wilhelm Reich. Die Nutzanwendung beider Wissenschaften, der Öko- wie der Psychoanalyse, besteht im Kampf gegen das Unrecht, hier der ökonomischen Ausbeutung und politischen Unterdrückung, dort der Sexualrepression und ihrer unerquicklichen Folgen: schweißige Verklemmtheit, Religiosität, Knechtsgesinnung, massenhafter freiwilliger Gehorsam. Diese Zusammenhänge dämmerten mir an jenem Abend zum ersten Mal, auch, daß der Kampf gegen das Unrecht, die so sehr verpönte "Parteinahme", und wissenschaftliches Vorgehen ("Objektivität") sich keineswegs ausschließen, sondern vielmehr bedingen und hierfür umfassende Bildung nur von Nutzen sein kann. An jenem Abend brodelte der mit 800 Anwesenden übervolle Saal, und auch schon einige Feministinnen begannen zu keifen (freilich nicht so dreist wie später). Weniger durch die Referenten (es waren ihrer unglaubliche fünf an der Zahl, was überhaupt nicht überzeugend wirkte), sondern durch die wenigen entscheidenden Diskussionsbeiträge des Gründers, geistigen und praktischen Anführers der MRI, Fritz Erik Hoevels, begann ich dies eine zu begreifen: der gesellschaftlichen Umwälzung und revolutionären Veränderung muß die persönliche Umstrukturierung vorausgehen, vor der herrschenden Klasse muß der Polizist im eigenen Kopf liquidiert werden. Individuelle und gesellschaftliche Freiheit stellen keinen Gegensatz dar; letztere ist lediglich die unverzichtbare Grundlage der umfassenden, zentral auch: sexuellen Selbstbestimmung des Einzelnen. Es kann keine Inseln der Freiheit geben, wenn deren Todfeinde die Gesetze machen.

Diese und viele andere Einsichten verdanke ich Fritz Erik Hoevels, den zu meinem Lehrer und Freund zu zählen den größten Vorzug meines Lebens darstellt. "Links sein", so lernte ich, bedeutet weder verkniffenen Asketismus noch weltfremde Spinnerei ("Utopismus"), weder hektische Handwerkelei noch besserwisserische Impotenz: damit waren etliche seinerzeit noch existierende Sackgassen wie die K-Gruppen (stalinistisch/maoistisch), die Opportunisten (DKP und GIM) sowie die linken Seminarwichser (MG) und Edelspontis abgeschnitten. "Links" ist auch nicht gleichbedeutend mit "Ostblock", wie dies seit dem Endsieg der USA wieder verstärkt in die Schülerköpfe gehämmert wird. Hier hilft nur historische Bildung weiter, vor allem die Lektüre der Werke Trotzkis. "Links" ist schließlich nicht identisch mit Hängertum, vielmehr sind Fleiß und Disziplin bei der Aneignung von Übersicht unverzichtbare Voraussetzungen für den politischen Kampf. Daß "Linke" keine Verlierer sein müssen, zeigt das Beispiel Lenins. Und daß "links" erst recht nichts mit den "autonomen", tatsächlich mit Steuergeldern ("Staatsknete") alimentierten Schlägerbanden und mittlerweile Todesschwadronen des "Schwarzen Blocks" oder mit der Pöstchenjägerei und Steuergeldfresserei der Etikettenschwindler Lafontaine und Gysi zu tun hat, ergibt sich aus dem Gesagten. Was heißt "links" dann? Zum Beispiel "nichts verschenken", was dem eigenen Vorteil dient, vom Eierkocher, den heute abgeschafften Glühbirnen über die Geschirrspülmaschine bis zum Nacktbaden an den Baggerseen, und den seit der Coronerei erwürgten Grundrechten der Versammlungs- und Meinungsfreiheit – gehört alles nicht zum "Klassenkampf", oder was? Die Reaktionäre sind da ganz anderer Meinung...

Was "links" sein kann und sein soll, davon geben die anschließend aufgeführten Veröffentlichungen und Vorträge vielleicht eine ungefähre Vorstellung. Sie hätten ohne die Anregung, Anleitung und Kritik von Fritz Erik Hoevels in dieser Form weder geschrieben noch überhaupt je gedruckt werden können.